Beide Veranstaltungen zum Holocaust-Gedenktag waren mehr von Norderstedts Polizei geschützt als je zuvor. Beim Lese-Konzert „Ich wand‘re durch Theresienstadt“ im Kulturwerk Norderstedt waren Polizisten vor der Tür und auch im Saal ebenso gut vertreten wie beim Holocaust-Gedenken an der KZ-Gedenkstätte Wittmoor am Fuchsmoorweg im Ortsteil Glashütte.
Die Polizei-Präsenz war vor allem den bestialischen Anschlägen der Terror-Organisation Hamas auf die Kibbuzim und auf das Musikfestival Nova in Südisrael und den anschließenden antisemitischen Demonstrationen in Europa und auch in Deutschland geschuldet. Kultur unter Polizeischutz bedeutet aber auch Demokratie in Gefahr.
Holocaust-Gedenktag in Norderstedt gut besucht
Wohl auch deshalb waren beide Veranstaltungen zum Holocaust-Gedenktag gut besucht. Der große Saal im Kulturwerk war mit fast 200 Zuschauerinnen und Zuschauern gut besetzt, und an der Gedenkfeier an der KZ-Gedenkstätte Wittmoor in Norderstedts Ortsteil Glashütte nahmen bis zu 80 Bürgerinnen und Bürger teil. „Ich erinnere mich an Holocaust-Gedenkzeiten, wo wir hier mit sieben Leuten standen“, sagte Alt-Oberbürgermeister Hans-Joachim Grote, der an der Gedenkfeier ebenso teilnahm wie seine Nachfolgerin Elke Christina Roeder, die jetzige Oberbürgermeisterin Katrin Schmieder und weitere Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Stadtgesellschaft.
„Wir müssen schon den kleinsten Auswüchsen an Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entgegentreten, wir sind es den Opfern schuldig und denjenigen, die überlebten“, sagte Stadtpräsidentin Petra Müller-Schönemann (CDU) in ihrer Rede. „Gerade angesichts dessen, was dieser Tage in unserem Land geschieht, dürfen wir uns nicht mehr wegducken“, ergänzte Müller-Schönemann und nannte das Treffen von Rechtsradikalen und Neonazis, die die massenhafte Vertreibung von Millionen Menschen als „Lösung für Probleme“ planen, eine „widerliche Duplizität“ der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942.
Stadtpräsidentin: „Lassen Sie uns nie vergessen, was geschehen ist“
Müller-Schönemann ging auch auf das Massaker ein, bei dem Hamas-Terroristen am 7. Oktober in Kibbuzim und dem Musikfestival Nova in Südisrael 1400 Jüdinnen und Juden, darunter Babys, brutal ermordeten, folterten, vergewaltigten und 240 Personen in ihr Tunnelsystem unter dem Gazastreifen verschleppten. 140 Jüdinnen und Juden sind immer noch in der Gewalt der palästinensischen Terroristen. Für Jüdinnen und Juden ereignete sich ein zweiter Holocaust, und der 7. Oktober, ein Sonnabend, wurde zum „schwarzen Schabbat“.
„Lassen Sie uns nie vergessen, was geschehen ist“, mahnte Müller-Schönemann und schloss damit an die Aktion #WeRemember an, die zu diesem Holocaust-Gedenktag als Zeichen gegen Antisemitismus, Völkermord, Hass und Fremdenfeindlichkeit vom Jüdischen Weltkonkress und der Unesco ausgerufen wurde.
Früherer Pastor Plümer hält beeindruckende Rede
Ayala Nagel, Vorsitzende des Kulturvereins Chaverim – Freundschaft mit Israel, der seit 1999 zum Holocaust-Gedenken an die KZ-Gedenkstätte Wittmoor bittet, ist als Israelin von dem Hamas-Massaker direkt betroffen. „Ich habe keine Worte mehr“, sagte die 56-Jährige aus Haifa und las ein Gebet auf Hebräisch und auf Deutsch vor.
Eine beeindruckende Rede hielt Hans-Christoph Plümer, Pastor i. R., vom Vorstand des Kulturvereins. „Ich sehe die armen und zerlumpten Gestalten, die hier 1933 schuften und später im KZ Fuhlsbüttel noch viel Schlimmeres erleiden mussten.“ Plümer ging auf das Gute und das Böse im Menschen ein und auf die Frage der Schuld: „Was, wenn wir heute in Situationen kämen, in denen unsere Großeltern und Eltern in der NS-Zeit kommen konnten, was, wenn wir heute aufstehen und Nein sagen müssten, auch, wenn wir unser Leben damit riskieren.“
Plümer erinnerte auch an Adolf Eichmann und an die „Banalität des Bösen“, wie die jüdische Philosophin Hannah Arendt den Schreibtischtäter nannte, der die kalte Strategie für die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden plante. „Eichmann hatte die Gewissheit, das Richtige zu tun, weil man es ihm befohlen hatte“, sagte Plümer. Auch die Hamas-Terroristen hätten das Massaker auf Israel kalt und strategisch geplant, um Israel und die Jüdinnen und Juden zu vernichten – der zweite Holocaust, die zweite Schoa.
„Opus 45“ spielt Werke von jüdischen Komponisten
Von großer Intensität gelang die musikalische Lesung „Ich wand‘re durch Theresienstadt“ mit dem Schauspieler Roman Knižka, der Mezzosopranistin Pia Liebhäuser und dem Bläser-Ensemble „Opus 45“ im Kulturwerk. Knižka verwandelte den großen Saal zum Auftakt mit „Welcome“ aus dem Film „Cabaret“ in eine Berliner Spelunke und inszenierte den Tanz auf dem Vulkan, der in Berlin herrschte, als der NS-Terror immer mehr Menschen mundtot und stumm machte: „...müsst ihr euren Stern verstecken vor dem Blick der Nachbarin.“ Welch‘ ein beklemmender Einstieg!
Die Idee zu dem Stück hatte Hornist Benjamin Caparot vom Ensemble „Opus 45“. Das Ensemble spielte Werke von jüdischen Komponisten, darunter ein Wiegenlied von Gideon Klein, Auszüge aus der Kinderoper „Brundibár“ von Hans Krása, aber auch „Die Moldau“ von Bedrich Smetana, den Walzer „Rosen aus dem Süden“ von Johann Strauß und zum Schluss das Kaddisch von Maurice Ravel und „My Ship“ von Kurt Weill, der rechtzeitig in die USA emigrieren konnte.
Eindrucksvolle, szenische Lesung einer Kinderoper
„Man muss durchhalten, man muss die Angst überwinden und stark sein. Ich, Zvi Cohen, geboren als Horst Cohen in Berlin, bin knapp zwölf Jahre alt und schon ein Held. Warum in Gottes Namen nur?“, rezitierte Roman Knižka eindringlich aus Zvi Cohens Erinnerungen an das KZ Theresienstadt, taumelnd zwischen Angst und Aggression, Hoffnung und Horror.
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Eindrucksvoll gelang Knižka, neben Texten von Helga Weissová, Ruth Klüger und Ilse Weber, auch die szenische Lesung der Kinderoper „Brundibár“, die der Prager Komponist Hans Krása in Theresienstadt schrieb und umsetzte. „Brundibár“ ist Sinnbild des Bösen, des NS-Regimes. Nachdem die Nazis aus dem KZ ein Vorzeige-Lager für den Besuch von ausländischen Hilfsorganisationen machten und der Film „Hitler schenkt den Juden eine Stadt“ abgedreht war, kehrte in Theresienstadt wieder das Grauen ein, das Elend und der Hunger – und die Deportationen ins Todeslager Auschwitz.
Nach Drehende wurden 18.000 Menschen nach Auschwitz deportiert
Zu Herzen gehend interpretierte Pia Liebhäuser das Liber Scriptum aus dem Requiem von Giuseppe Verdi, „Du bist ein Kind“ von Carlo Sigmund Taube und vor allem drei jiddische Lieder wie „Berjoskele“, die Viktor Ullmann 1944 in Theresienstadt schrieb.
Nach Beendigung der Dreharbeiten für den „Führer-Film“ wurden 18.000 Menschen von Theresienstadt ins Todeslager Auschwitz deportiert, unter ihnen der Kabarettist Leo Straus, die Komponisten Viktor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krása, Kurt Gerron und der Dirigent Rafael Schächter. Die Krankenschwester Ilse Weber, aus deren Schriften der Titel „Ich wand‘re durch Theresienstadt“ stammt, meldete sich freiwillig, um die Kinder zu begleiten. In den sicheren Tod.