ERGREIFENDE INSZENIERUNG
Bereits im vorigen Jahr begeisterten Roman Knižka, Pia Liebhäuser und das Bläserquintett Opus 45 mit ihrem Gedenk-Lesekonzert „Ich wand‘re durch Theresienstadt“ das Publikum im Kulturwerk Norderstedt zum Holocaust-Gedenktag. Auch in diesem Jahr war das Publikum von der Intensität fasziniert, mit der Rezitator Roman Knižka, Mezzosopranistin Pia Liebhäuser und das Bläserquintett Opus 45 Texte, Lieder und Kompositionen rezitierten, sangen und spielten. Zum Schluss stand das Publikum auf und applaudierte dankbar.
Erste Gänsehaut gab es, als Klarinettist Daniel Bäz im Dunklen auf die Bühne trat und mit seinem Instrument die zwischen Trauer und Tanz taumelnde Melancholie jüdischer Musik spielte.
Knižka, Liebhäuser und die Musiker verwöhnten das Publikum im fast ausgebuchten großen Saal nicht nur mit beliebten Texten und Liedern jüdischer Künstlerinnen und Künstler wie Mascha Kaléko, Heinrich Heine und Ludwig Börne, Felix Mendelssohn, Gustav Mahler und Viktor Ullmann, sondern auch mit ätzenden Äußerungen von Antisemiten wie Richard Wagner und Nazi-Verbrechern wie Heinrich von Treitschke.
Diese Wechselstimmung gab zunehmend eine Ahnung davon, mit welchem Zynismus jüdische Kunst und Kultur von „Ariern“ durch die Jahrhunderte, mit einer vernichtenden Steigerung unter der Nazi-Herrschaft in den 1930er- und 1940er-Jahren, immer wieder behindert und zuletzt zerstört wurde.
Betroffenes Schweigen herrschte im Publikum, als der Schauspieler und Hörbuch-Gestalter den Programmtitel „Ich hatte einst ein schönes Vaterland“ von Heinrich Heine rezitierte, mehr noch aber bei Else Dormitzers „Transport“, in dem er Dormitzers Intension zwischen Hoffnung auf Leben und verdrängte Todesahnung beklemmend wiedergab. Andererseits wusste er wundervoll, die lakonische, selbstironische Poesie Mascha Kalékos wiederzugeben.
Gar Empörung über den antisemitischen Text regte sich im Publikum, als der TV-Star (Tatort, Donna Leon) Wagners „Das Judentum in der Musik“ rezitierte. Mit zunehmend herrischer Stimme und hochfahrender Gestik, die Hände in die Hosentasche stopfend, laut über Felix Mendelssohns Musik abwertend predigend – als Komponist war Wagner genial, als Mensch ein Monstrum.
Immer wieder auch gab es Texte, in denen die Zuhörerinnen und Zuhörer mehr über jüdische Kultur und Religion erfuhren, beispielsweise in „Eine Jugend in Bischberg“ von Eduard Silbermann, in dem der Schabbat, die Ruhe des Freitagabends, gefeiert wird, von Knižka fein und voller Poesie erzählt.
Pia Liebhäuser, Solistin an der Stuttgarter Oper, begeisterte, stets kongenial vom Bläserquintett Opus 45 begleitet, mit ihrem Stimmumfang und ihren einfühlsamen Auslegungen, beispielsweise in der „Barcarole“ von Jacques Offenbach, in „Urlicht“ von Gustav Mahler, aber besonders durch ihre innig gesungenen jiddischen Lieder.
Und dann ging Roman Knižka mit einem Text aus dem Briefwechsel zwischen Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman auf das Massaker der Hamas-Terroristen auf die Kibbuzim und das Nova-Musikfestival am 7. Oktober 2023 in Süd-Israel ein, der vielen als zweite Schoa gilt, und knüpfte damit vom Holocaust vor 80 Jahren an die jüngste jüdische Katastrophe an. „Wir müssen handeln“, rief Roman Knižka zum Schluss ins Publikum.